Unsere Groß- und Urgroßmütter warteten nicht nur sittsam zu Hause, bis deren Eltern ihnen den richtigen, sprich auch vermögenden Ehemann, zuführten. Sie schauten sich durchaus um im Dorf, in der Stadt. Besonders angetan hatten es den gutbürgerlichen Damen damals natürlich junge, schneidige, gutgewachsene Offiziere in den damals sehr bunten, gutsitzenden, körperbetonenden Uniformen. Von denen gab es im Kasernengelände nördlich des Alaunplatzes so einige.
An diesen wandte sich auch eine gewisse Helene, die Tochter eines Dresdner Gewerbetreibenden. Ihr großes Problem: Ein angehender Militärtierarzt machte ihr den Hof. Sein Problem: Er müsste für eine Eheschließung neben der Erlaubnis seines Vorgesetzten (entsprechend einer gesetzlichen Verordnung vom 1. April 1910) auch eine Heiratskaution über ein außerdienstliches, jährliches Einkommen von mindestens 750 Mark (entspricht heute etwa 3.900 Euro), bzw. einen Besitz von 15.000 Mark (ca. 78.000 Euro) nachweisen und amtlich hinterlegen.
Im Leserbrief von Helene hießt es: „Ich bin nun aber die Tochter eines Gewerbetreibenden, der seinem Töchterchen zwar einmal das nötige Moos mitgeben wird, aber nicht die Gesetze über Standesmäßigkeit und Heiratskonsens umstoßen kann.“
Das ist der Stoff, der ganze Berge von Taschentüchern nass weinen lassen könnte. Doch damit sollte die geschätzte Leserin (natürlich ist auch der geschätzte Leser willkommen) noch warten. Lesen wir, was Helene weiterschreibt. „Nun, lieber Onkel, bitte ich Dich, mir zu sagen, ehe sich Dein ‚Nichtchen‘ Herz und Kopf verdrehen lässt, ob es von Gesetzes wegen überhaupt möglich ist, dass er mich einmal heiratet. Wie viel wird denn als Heiratskaution verlangt? Er ist bald fertig mit seiner Karriere (gemeint ist die Offiziersausbildung) und könnte nötigenfalls bald in den Hafen der Ehe einlaufen.“
Nun ist das Wasser nicht mehr zu halten ob dieses anrührenden Schicksals. Doch gemach, gemach.
Weiter hießt es im Brief an den „Onkel“: „Zur Beruhigung will ich Dir aber sagen, dass Du mir mit einem ‚Nein, er kann Dich nicht heiraten‘ nicht das Herz brichst, denn nicht nur eine Hand voll, sondern ein ganzes Land voll gibt es Männekens.“
Das nenne ich aber mal selbstbewusst.
Der „Onkel“ von der Zeitungsredaktion erläuterte zunächst die gesetzliche Lage. So seien Veterinäroffiziere jetzt hinsichtlich der Verheiratung den Sanitätsoffizieren gleichgestellt worden. Und dann riet er aber unserer „frommen“ Helene auf Grund ihres Briefes, dass sie sich die Sache mit der Ehe noch einmal überlegen möge, „… denn da es Dir ja völlig schnuppe ist, ob er oder ein anderes ‚Männeken’ Dich heiratet, so scheint mir der Herr Veterinär doch nicht der sogenannte ‚Richtige’ zu sein.“
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür hat der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive durchstöbert.
Der Beitrag Von wegen keusch und züchtig erschien zuerst auf Neustadt-Geflüster.